England 1840: Portobefreite Briefe, die heute ein Vermögen wert sind!

Parliament_envelope (cw/wm) Los 20 400 der 38. Gärtner-Auktion vom 16.–20. Oktober 2017 beinhaltet nur vier Belege. Aber bereits der Ausrufpreis von 90 000 Euro verdeutlicht, dass es sich um ganz besondere handeln muss, die eine einzelne Würdigung verdient haben, zumal sie postgeschichtlich einmalig sind. Nachfolgend stellen wir den ersten Brief vor.

Parliament_envelope_RSGroßbritannien: 1840, Prepaid Parliamentary Envelope („Houses of Parliament“), One Penny, zweiseitig verwendet. Die erste Verwendung erfolgte bereits vier Tage nach Ausgabe der in der Bibliothek des Britischen Parlamentes an dessen Mitglieder verkauften Briefumschläge, dokumentiert mit rotem Einkreis-Kronen-Stempel “PAID 20 JA 20 1840” von London nach Market Batsh. Der Absender war Mitglied im Parlament und bestätigte mit seinem Namenszug links unten die Zulässigkeit der Verwendung des vorausbezahlten Umschlages als Abgeordneter. Am Empfangsort wurde der Umschlag am 23. Januar 1840 gewendet und die Innenseite als neue Frontseite verwendet und adressiert. Der Umschlag wurde via London auf den europäischen Kontinent und dort zuletzt über Würzburg nach Erlangen in Bayern(!) geschickt. Empfänger war ein Dr. Wagner, Dekan der Medizinischen Fakultät in Erlangen. Ein rückseitiger Ankunftsstempel von Würzburg sowie ein vorderseitiger Auslagenstempel ebenfalls von Würzburg dokumentieren die erfolgreiche Ankunft der ungewöhnlichen Postsendung.
Allergrößte Seltenheit dieser Umschläge, welche in den letzten Jahren durch die philatelistische Forschung ganz neue Bedeutungen erfahren haben.
Zum Hintergrund dieses Briefes führt der Experte, der das Los untersuchte und beschrieb aus: Anfang Dezember 1839 wurde in Großbritannien das inländische Briefporto für den einfachen Brief auf 4 Pence reduziert, aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit wurde aber bereits zum 10. Januar 1840 das Porto weiter auf 1 Penny gesenkt. Die Ausgabe von Briefmarken und Briefbögen/ Umschlägen zum Vorausfrankieren war zu diesem Zeitpunkt bereits grundsätzlich beschlossen. Einhergehend mit der Absenkung der Briefgebühr ging aber auch die Jahrhunderte währende Praxis einer immer ausufernden Nutzung von Portofreiheiten („free franks“), welche zahlreiche Personen und Institutionen in unterschiedlichem Umfang genossen, zu Ende. Mit diesen Portofreiheiten wurde zum Teil sogar in unzulässiger Weise gehandelt! Somit mussten salopp ausgedrückt, die einfachen Leute ein sehr teures Briefporto zahlen und diejenigen, welche vermögender waren, fanden in der Regel Wege, um sich der Portofreiheiten zu bedienen. Deswegen war auch die Erwartung der Öffentlichkeit in die neue Postreform neben der Verbilligung des Portos eine Gleichbehandlung für alle. Und diesem Erwartungsdruck wurde mit Aufhebung aller Portofreiheiten zum 10. Januar 1840 entsprochen. Keine Person konnte nun mehr Post „free“ aufgeben, selbst die Königin von England, die damals junge Queen Victoria, nahm davon Abstand, dieses Privileg weiter innezuhaben. Auch alle Institutionen waren davon betroffen.
Aber bei so viel romantischer Vorstellung von Gleichheit gab es doch eine Sonderbehandlung für eine bestimmte Personengruppe. Den Abgeordneten des Parlaments, Unter- und Oberhaus, wurde mittels extra für sie neu geschaffener Postwertzeichen (Briefumschläge), welche gegen Bezahlung der Wertstufe zu erwerben waren, die Möglichkeit gegeben, ihre Post zumindest auf diese Weise vorausfrankiert in der Bibliothek des Parlamentes abzugeben.
Die Umschläge erschienen ab dem 16. Januar 1840 in Wertstufen zu 1 Penny und zu 2 Pence, womit unterschiedliche Gewichtsstufen abgegolten wurden. Im Verlauf erschienen die drei verschieden Versionen mit entsprechenden Abänderungen in der obersten Textzeile. Zunächst noch für beide Kammern „Houses of Parliament“, dann zusätzlich aufgeteilt in “House of Lords” (Oberhaus) und „House of Commons“ (Unterhaus). Die Umschläge waren landesweit gültig(!), also keine Form von Lokalausgaben. Erworben werden durften sie aber nur von Abgeordneten des Parlaments und als Bestätigung der zulässigen Verwendung mussten die Abgeordneten ihren Namenszug auf dem Umschlag vorderseitig anbringen (wie sie dies aus der Zeit der „free franks“ sowieso kannten). Den Abgeordneten wurde damit also die Abschaffung der Portofreiheit etwas versüßt, dass sie nicht noch extra zum Postamt gehen und dort Schlange stehend die Briefe bar frankieren lassen mussten; stattdessen konnten die Briefe durch die als bezahlte Postwertzeichen geltenden und somit voll frankierten Umschläge bequem innerhalb des Parlaments aufgegeben werden. Ferner war die Verwendungsmöglichkeit von Umschlägen ebenfalls eine relative Neuheit und machte die Handhabung der Briefversendung einfacher und diskreter.
Das neue Privileg endete ebenso wie die Kursdauer der Prepaid Parliamentary Envelopes mit Beginn der offiziellen Gültigkeit der Briefmarken und Mulready-Briefbögen/Umschläge zum 06. Mai 1840. Ab dann konnte aber die nun mit den Postwertzeichen „für alle“ vorausfrankierte Post weiterhin innerhalb des Parlaments aufgeben werden.
Die Prepaid Parliamentary Envelopes haben erst in den letzten Jahren eine zunehmende Aufmerksamkeit von Philatelisten erfahren. Noch in 1881 wurden diese Umschläge in einem britischen Standardwerk zu den Postwertzeichen von Großbritannien wörtlich als „Kuriositäten“ bezeichnet. Über hundertvierzig Jahre lang wurde angenommen, dass die Portofreiheit speziell für die Abgeordneten unter der Hand doch noch fünf Monate bis zum Erscheinen der allgemeinen Postwertzeichen fortgesetzt wurde und die Abgeordneten die Umschläge kostenlos erhielten, obwohl sie statt mit „free“ nun mit „paid“ abgestempelt wurden. Die neuere Forschung ist aber auf diesem Gebiet ein gewaltiges Stück vorangekommen und seit 2013 werden die Umschläge als Postwertzeichen auch im führenden und maßgeblichen Britischen Katalog Stanley Gibbons noch vor der ‚Black Penny‘ als Postwertzeichen gelistet und hoch bewertet. Der Michel-Katalog hat sie schon deutlich länger im Ganzsachen-Katalog verzeichnet.
Eine Zäsur ist das Erscheinen des Handbuches der britischen Philatelisten Alan Huggins und Edward Klempka („The 1840 Prepaid Parliamentary Envelopes“, 2013 erschienen bei der Royal Philatelic Society London). Allein durch das Lesen des vom Kurator der königlichen Briefmarkensammlung verfassten Vorwortes sowie der Einleitung der Autoren erfährt man wesentliches über die Geschichte und die mittlerweile anerkannte Bedeutung dieser allerfrühesten und im ganzen Lande gültigen Postwertzeichen.
Das Handbuch listet im Anhang detailliert rund 260 Umschläge oder Umschlagsteile (fronts). Inzwischen sind ein paar hinzugekommen. Bemerkenswert in der Geschichte der Umschläge ist, dass gerade die Sammlung des Britischen Königshauses von früh an entgegen dem sonstigen Desinteresse diese Umschläge in einiger Stückzahl erwarb, darunter auch einmaliges Stück zu 2 Pence der House of Lords-Umschläge. Ferner findet sich in der königlichen Sammlung das bislang einzig bekannte Stück, welches ins Ausland adressiert wurde. Es ging aber tatsächlich nur inländisch an das Außenministerium und wurde dort mit innerhalb von Diplomatenpost oder gar durch Diplomaten selbst nach Frankreich gebracht. Jedenfalls zeigt das Stück keine zusätzlichen Stempel oder Taxierungen, welche auf einen offen durchlaufenen Postweg hinweisen könnten.
Der hier im Rahmen dieser einzigartigen Zusammenstellung angebotene Prepaid Parliamentary Envelope wurde zwar gewendet verschickt, ist aber damit trotzdem und definitiv offen auf dem Postweg in das Ausland verwendet worden. Und dies rund 100 Tage vor Gültigkeit der ersten allgemeinen erhältlichen Postwertzeichen.
Der Beleg ist eine Neuentdeckung und war entsprechend im Handbuch und Zensus von Huggins und Klempka bisher nicht bekannt.